Kaum ein zeitgenössischer Künstler begründet sein Werk so konsequent aus einem Bewusstsein von Krise wie Santiago Sierra. In diesem Œuvre stellt Ausbeutung ein zentrales Motiv dar. Georg Imdahl untersucht das Thema in seiner doppelten Ausrichtung: als künstlerische Kritik an der ökonomischen Ausbeutung im Billiglohnsektor sowie als Praxis der Appropriation von Schlüsselwerken seit den 1960er-Jahren. Als zeitgenössisch erweist sich Sierras Arbeit in der kontinuierlichen Reflexion ökonomischer, politischer, ethischer und ästhetischer Zusammenhänge wie auch in der konsequenten Rückkopplung des eigenen Ansatzes mit eben jener Inkubationsphase der zeitgenössischen Kunst in den 1960ern. Vor diesem Hintergrund erörtert der Essay anhand ausgewählter Werkbeispiele und Werkvergleiche Funktion und Ertrag von Referenzen in einem Œuvre, das heute bereits als Klassiker einer konfliktuell sich verstehenden Kunst gelten kann. Dargelegt werden Sierras Bezugnahmen auf die Minimal und die Conceptual Art, auf die Performance-Kunst und Formen der Partizipation. Der Kontroverse um Sierras Intervention 245 m³ in der ehemaligen Synagoge Stommeln aus dem Jahr 2006 widmet die Untersuchung ein eigenes Kapitel.
Georg Imdahl ist Kunstkritiker und schreibt seit den frühen 1990er-Jahren für verschiedene Tageszeitungen, vorwiegend für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, über zeitgenössische Kunst. 1995 wurde er mit einer Arbeit über das Frühwerk Heideggers promoviert (Das Leben verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen, Würzburg 1997), danach nahm er zahlreiche Lehraufträge für zeitgenössische Kunst und Kunstkritik an unterschiedlichen Hochschulen in Deutschland wahr. Seit 2011 hat er die Professur für Kunst und Öffentlichkeit an der Kunstakademie Münster inne, wo er unter anderem die Vortragsreihe Münster Lectures gegründet hat.
Pressestimmen:
»ES LEBE DIE FRAGWÜRDIGKEIT. Georg Imdahl deutet den Künstler Santiago Sierra
Santiago Sierra erhitzt die Gemüter: Mal veranlasste er Männer dazu, vor der Kamera zu masturbieren, mal bezahlte er afrikanische Einwanderer dafür, dass sie nahe Cádiz 3.000 Gräber aushoben, mal durften Museumsbesuchers sich über Stunden in eine Black Box sperren lassen. Auf den ersten Blick wirken Sierras Arbeiten plakativ, banal, manchmal geschmacklos. Georg Imdahl, Professor an der Kunstakademie Münster und Autor dieser Zeitung, hat dem Skandalkünstler einen kenntnisreichen Essay gewidmet.
Der Titel „Ausbeute“ spielt zum einen auf Sierras zentrales Thema an, die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, zum anderen darauf, dass er sich systematisch bei Kollegen der sechziger und siebziger Jahre bedient und deren Werke kopiert, kritisiert, kommentiert.
Kaum ein anderer Künstler identifiziere sich „in formaler Hinsicht so sehr mit jener Inkubationsphase der zeitgenössischen Kunst“ seit 1960, um sie dann allerdings „vor andere soziopolitische und ökonomische Vorzeichen zu stellen“, meint Imdahl. An unzähligen Beispielen weist er nach, wie sich Sierra an Minimal Art, Land Art, Arte Povera oder früher Performance-Kunst orientiert. So ließ er etwa – in Anlehnung an ein Happening der Argentinierin Graciela Carnevale, die 1968 Vernissage-Gäste eingesperrt und sich selbst überlassen hatte – im Jahr 2000 mehrere ahnungslose Kunstinteressierte in Guatemala City in einem Bus mit zugeklebten Fenstern in ein Elendsviertel fahren. Sie sollten mit Angst, Armut, Gewalt und Freiheitsberaubung konfrontiert werden.
Als eine Frau fragte, ob Sierra als Künstler das Recht habe, sie das Gefühl nachempfinden zu lassen, das ihr Mann hatte, als er während der Diktatur entführt worden sei, war seine zynische Antwort: „I don't have the right to make you feel that you live in Disney World.“
Überzeugend erläutert Imdahl, worin die Qualität vieler Sierra-Arbeiten liegt. Ein gängiger Vorwurf an den Künstler lautet: Er, der die kapitalistische Ausbeutung kritisieren wolle, beute ja selber aus, weil er Menschen Hungerlöhne zahle, um sinnlose Tätigkeiten zu verrichten oder über sich ergehen zu lassen. Etwa, indem er Tagelöhner in einer Galerie ohne Sinn und Zweck tagelang eine Gipswand stützen ließ oder Arbeitslosen je dreißig Dollar zahlte, damit sie sich eine schwarze Linie – Stichwort Minimal-Art – auf den Rücken tätowieren ließen. Die bittere Pointe: Fotos der Tattoo-Performance wurden auf dem Kunstmarkt für 15.000 Euro angeboten.
Sierras Anspruch als Künstler ist nicht, die Welt zu verbessern. Er wiederholt vielmehr bewusst die verkorkste Realität, um im Kunst-Kontext auf sie aufmerksam zu machen. Dabei verstrickt er meist sich selbst und die Rezipienten seiner Werke in eine Teilhabe an Ungerechtigkeit. Wer die Ausbeutung im Museum ausstellt, ihr zusieht oder 15.000 Euro für ein Foto davon bezahlt, gerät vermutlich in moralische Konflikte. Erst mit der Kontroverse aber trete eine Sierra-Arbeit in ihre Existenz ein, so Imdahl, ja die „Unauflöslichkeit der Widersprüche“, in die der Künstler „sein Werk verwickelt, und die daraus entstehende Fragwürdigkeit“ seien „das stärkste Argument für eben dieses Werk“.
Imdahls Essay ist, auch wenn man seine Meinung nicht in jeder Hinsicht teilen mag, eine luzide Studie, die dem Leser Sierras Arbeit und die zeitgenössische Kunst an sich ein Stück näherbringt. Am Schluss rollt der Autor auch die Sache mit den Autoabgasen in einer ehemaligen Synagoge noch einmal ausführlich auf, jene heftig diskutierte Arbeit von 2006, die unter anderem als „geschmackloses Kunstspektakel“ bezeichnet wurde. Imdahl jedoch hält sie für „einen der eindringlichsten Beiträge zur Vergegenwärtigung des Holocausts“.«
KATHARINA RUDOLPH, FAZ vom 6. März 2019