Durée et simultanéité. A propos de la théorie d'Einstein
Deutsche Erstübersetzung aus dem Französischen von Andris Breitling. Mit einer Einleitung von Christina Vagt und einem Kommentar von Andris Breitling.
Bergsons Philosophie dreht sich um die Frage der Zeit. Sein Werk beeinflusste Philosophen wie Gaston Bachelard, Maurice Merleau-Ponty und Gilles Deleuze, Schriftsteller wie Marcel Proust und T.S. Elliot, aber auch Künstler wie Henri Matisse. Die Wirkung der Bergsonschen Zeitphilosophie ist nicht zuletzt dieser Abhandlung über Einsteins Relativitätstheorie geschuldet, die 1922 in Paris erschien und jetzt zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt.
Dauer und Gleichzeitigkeit stellt der modernen Physik die Frage, wie sie von der reellen Experimentalapparatur zur mathematischen Formel gelangt, und fragt zugleich nach den philosophischen Konsequenzen, die aus der symbolischen Abstraktion von Zeit und Bewegung zu ziehen sind. Fragwürdig erscheinen Bergson insbesondere die Gedankenexperimente von Einstein und Langevin, mittels derer die Relativitätstheorie popularisiert und gelehrt wird.
Seine Kritik an Einstein und anderen Relativitätstheoretikern, die er im Laufe der Abhandlung deutlich artikuliert, richtet sich dabei weniger gegen den physikalischen Gültigkeitsanspruch der Theorie und ihrer Verfahren. Als Physik begrüßt Bergson die Relativitätstheorie ausdrücklich; allerdings verweigert er sich ihrem metaphysischen Anspruch. Die Relativitätstheorie, so Bergson, weiß nichts von der wirklichen Zeit und ihrer Relativität, da diese sich nicht mit Uhren oder anderen Messverfahren feststellen, sondern sich lediglich erleben lasse.
Die Relativitätstheorie ist aber auch Anlass für Bergson, die eigene Zeitphilosophie, die er zuvor an mathematischen, psychologischen und biologischen Verfahren geschärft hat, nun auch physikalisch auf die Höhe seiner Zeit zu bringen und zu präzisieren. In keiner anderen Schrift Bergsons werden Begriff und Bedeutung der Dauer so deutlich wie hier.
In der verbalen Debatte, die nach der Veröffentlichung von Dauer und Gleichzeitigkeit zwischen Einstein und Bergson auf einem Pariser Kongress entbrennt, geht es dann ausdrücklich um eine Hegemonie der Zeitbegriffe: Physiker und Philosoph streiten mithilfe des Zeitbegriffs um die Deutungshoheit der Gegenwart.
Dieser kurze Disput erfährt gegenwärtig durch die Arbeiten von Bruno Latour, Elie During und Jimena Canales im französischen und englischsprachigen Kontext eine gewisse Aufmerksamkeit, nicht zuletzt handelt es sich dabei um eine Gründungsszene der Zwei Kulturen Debatte. Die heutigen Medien- und Kulturwissenschaften verweisen mit ihrem dritten Weg zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ebenfalls auf diese historische Debatte, die als Appendix der Monographie Bergsons beigefügt ist.
Dauer und Gleichzeitigkeit ist nicht nur Bergsons umstrittenstes, sondern vielleicht auch sein aktuellstes Buch.
Dr. phil. habil. Andris Breitling arbeitet am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für französischsprachige Philosophie und Korrespondent des Fonds Ricœur in Paris. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit Paul Ricœurs Philosophie der Geschichte(n) auseinandergesetzt, in der Habilitationsschrift mit den Themen sprachliche Kreativität und interkulturelle Kommunikation. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen.
Dr. Christina Vagt ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie, Literatur, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin und Vertretungsprofessorin für die Theorie medialer Welten an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie hat ihre Doktorarbeit über Martin Heideggers Auseinandersetzung mit Relativitäts- und Quantenphysik geschrieben und forscht aktuell zu Medienkosmologie und Kulturtechniken des Entwerfens bei Richard Buckminster Fuller.
PRESSESTIMMEN
Auf Platz 5 der Sachbuch-Bestenliste von NDR Kultur und Süddeutscher Zeitung im März 2015 – dazu heißt es:
»Eine weitere Übersetzungsleistung soll an dieser Stelle auch gerühmt werden: Henri Bergsons Studie über Einsteins Relativitätstheorie unter dem Titel "Dauer und Gleichzeitigkeit". Sie hat Andris Breitling zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt und einem deutschen Publikum zugänglich gemacht - endlich.«
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»Henri Bergsons Philosophie ist heutzutage immer noch ein Geheimtipp. Erst neuerdings erlebt das Werk des seinerzeit in der Pariser Gesellschaft vergötterten Denkers eine Renaissance, so auch sein Werk ›Dauer und Gleichzeitigkeit‹, in dem er sich mit Einsteins Relativitätstheorie auseinandersetzt. [...] Bei dem 1922 erschienenen Buch ›Dauer und Gleichzeitigkeit‹ handelt es sich sogar um eine Erstübersetzung. Erst fast 100 Jahre später reagiert der deutsche Sprachraum auf die bedeutende Konfrontation der Zeittheorie des Philosophen Bergson mit der Revolution des Zeitraums durch den Physiker Albert Einstein. Für Bergson war diese Differenzierung von entscheidender Bedeutung: Er verstand seinen Beitrag niemals als Einmischung in den Wahrheitsfindungsprozess der Physiker, sondern immer als Markierung einer Differenz, in der sich die Stimme der Philosophie als Kommentar zu diesen szientifischen Setzungen kritisch zu positionieren habe. Insofern ist Bergsons Buch ein leidenschaftliches Buch für ein philosophisches Verständnis von Zeit unter Berücksichtigung der physikalischen Einsichten von Einsteins Relativitätstheorie.
[...]
Aber es geht letztlich nicht um eine Entscheidung, ob nun Bergson oder Einstein recht behält. Bergson kommt es in bester kritischer Tradition der Philosophie darauf an, dem physikalischen Diskurs seine Grenzen aufzuzeigen. Und das tut er in einer so lebendigen Sprache, dass ihm 1927 dafür der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.«
Micheal Wetzel, Deutschlandfunk, »Büchermarkt«
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»Im Grunde ist [Bergsons] Buch der in seinen Ergebnissen möglicherweise fehlerhafte (oder jedenfalls nicht fehlerfreie), trotzdem aber natürlich legitime Versuch, der Philosophie die Deutungshoheit über eine Kategorie zurückzuerobern, die für das menschliche Leben und Erleben von allergrößter Bedeutung ist. [...]
Es ist das Merkmal des Verlages Philo Fine Arts, kleinformatige, in jeder Hinsicht sehr hochwertige Bücher zu vertreiben. Auch dieses Buch, versehen mit einem festen Umschlag und einem Lesebändchen, ist auf schönes feines Papier gedruckt und zeugt in allen seinen Teilen von Kompetenz, Überlegung und Sorgfalt.
Der Übersetzung sind in Klammern immer wieder die französischen Ausdrücke zugefügt, die Herausgeberin hat eine lange und sehr instruktive Einführung geschrieben, in der sie den Leser mit der zeitgeschichtlichen Situation bekannt macht, in der das Buch erstmals erschien und der Übersetzer hat einen kleinen, aber sehr lesenswerten Essay über die Probleme einer Übertragung eines Bergson-Textes geschrieben. Den Band beschließen drei Anhänge sowie, als Höhepunkt, eine Diskussion zwischen Einstein und Bergson [...].«
Stefan Diebitz, Buchinformationen.de