"Die Waage der Gerechtigkeit, die Waage der präzisen Messung, die aufgehängte Waage, Drohung, Ordnung, Versprechen über dem Kopf der Frau, die in der einen Hand die Waage hält ... Gravitätisches Haupt in der anderen Welt, verträumt der Kopf, der sich über das Gewicht der Dinge auf der Waage zur Schulter neigt. Die Maschine in der Hand wie ein Herr und Besitzer, und der Kopf in den Wolken, wie ein Knecht und einer, der besessen wird. Technik in der Hand, Kultur im Kopf. Und die geschwungenen Formen des Körpers, die beides verbinden und ineinander verschachteln."
Michel Serres über Vermeers Die Goldwägerin
Den dritten Band seines fünfbändigen Großprojektes „Hermes“ widmete Serres der Übersetzung. Geht die klassische Wissenschaft noch von der Überzeugung aus, dass Informationen gegenüber jeder Übersetzungsstrategie stabil bleiben, produzieren Übersetzungen in allen Bereichen des kulturellen Lebens Variationen.
In den drei hier vorgestellten Essays nähert sich Serres der Malerei als Interpretation von Literatur. An drei Beispielen – Vermeer, La Tour, Turner – entwickelt Serres seine radikale Vorstellung von Kunstbetrachtung als assoziative Interpretation, philosophiegesättigte Wahrnehmung. Das konkrete Bild wird zum Ausgangspunkt für nachdenkende Betrachtung. Kunstbetrachtung wird damit genauso als variierende Übersetzung entwickelt wie die Malerei selbst. Diese Art der Kunstreflexion hat wesentlich zur Entwicklung eines freien, assoziativen Umgangs mit den bildenden Künsten beigetragen.
Mit einem Nachwort von Peter Bexte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff
Michel Serres wurde 1930 geboren. Serres ist ehemals Marineoffizier gewesen. Der Mathematiker und Philosoph lehrt Wissenschafts- geschichte an der Sorbonne (Paris) und in Stanford (Kalifornien). Seit 1991 ist er Mitglied der Académie Française.