Die Künstlerin Almut Linde legt mit Radical Beauty eine ebenso außerordentliche wie grundlegende Theorie über die existenzielle Notwendigkeit von Kunst vor. Sie begründet, inwiefern Form als Erkenntnis angesichts allgegenwärtiger Komplexität unentbehrlich wird.
Aus der Beobachtungs und Wahrnehmungsposition der bildenden Künstlerin untersucht Almut Linde Korrespondenzen mit Forschungsdisziplinen, die sich mit dem Phänomen Realität als das nicht sprachlich Fassbare, Ungenaue, dem Verstand nicht Zugängliche oder Unkontrollierbare beschäftigen. Diskurse aus Erkenntnistheorie, Neurobiologie, Physik und Philosophie werden zur Beschreibung des nicht sprachlich Greifbaren aus künstlerischer Perspektive befragt. Die Autorin belegt, wie in einem Vergleich mit anderen wissenschaftlichen Diskursen und Beschreibungsvarianten, wie der generativen Ordnung, der impliziten Ordnung, der Chaosforschung oder der Autopoiesis, die einen systematischeren Umgang mit Aspekten von Komplexität durch Neuordnung der beobachtbaren Phänomene anstreben, Annäherungen an das sprachlich nicht zu Beschreibende dennoch möglich sind und generativen Kunstprozessen, wie der von ihr entwickelten Methode des „Dirty Minimal“, nahestehen. Sie zeigt die Limitationen der Sprache auf und vertieft die wichtige Unterscheidung zwischen Begriff und Realität. So stellen gegenwärtige Probleme und Katastrophen nicht etwa Naturgewalten dar, sondern lassen sich vielmehr als Folgen eines unbewussten Umgangs mit dem begrifflichen Denken und seinen Folgen in der komplexen Welt verstehen.
Die Betrachtung der Kunstgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Form bringt überraschende neue Perspektiven hervor. Beispielsweise werden mit Jackson Pollocks Werk – so sieht es Almut Linde – in einzigartiger Weise Aspekte von Realität in die Malerei eingeführt: Statt Komplexität nachzubilden, entwickelt Pollock ein Verfahren, das Komplexität erzeugt. In seiner Malerei sind bereits fraktale Strukturen verwirklicht, bevor diese Terminologie überhaupt existierte.
Almut Linde ist eine radikale Bildhauerin, die in ihren Fotoaktionen, Installationen und Skulpturen mit vielfältigen Materialien und Prozessen arbeitet. Ihre Werke enthüllen die ökonomischen, ökologischen und politischen Bedeutungen von Form. Nun hat sie eine Künstlertheorie dazu verfasst. Der radikale Ansatz von Radical Beauty besteht darin, den Begriff der Schönheit auch im Sinne des Begriffs „Wurzel“ wieder auf die Ursprünge der Form zu lenken und komplexe Ordnungen einer Beobachtung zuzuführen. Linde stellt international aus, veröffentlicht theoretische Texte in Fachzeitschriften wie dem Kunstforum International und ist Professorin für Interdisziplinäre künstlerische Praxis an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Sie studierte bei Bernhard Johannes Blume und Franz Erhard Walther an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Ihr Werk wurde u.a. mit dem HAP GrieshaberPreis und dem Kunstbeutel Hamburg ausgezeichnet.