Die Geschichte der Fotografie wird gern als Erfolgsgeschichte technischer Innovationen erzählt: Immer bessere Techniken wurden entwickelt, immer genauere Bilder hervorgebracht. Diese Erzählung vom stetigen Fortschritt durchkreuzt aber von Anfang an eine Geschichte der Störung, der Irritation und des Unfalls: Die Technik spielte nicht mit, Bilder schmolzen, verfärbten sich im Entwicklerbad oder verschwanden hinter unerklärlichen Wolken und Schleiern. Was unsichtbar bleiben sollte – das Medium der Übertragung selbst – kam unübersehbar zum Vorschein. Peter Geimer erzählt die Geschichte dieser fotografischen Erscheinungen: In den ersten Jahrzehnten der Fotografie gilt es, das fotografische Bild gegen immer neue Dämonen der Technik zu verteidigen. Um 1900 beginnt man, auch Unsichtbares zu fotografieren – Strahlen, Geister, Gedanken – und weiß plötzlich nicht mehr zu sagen, ob die entstandenen Bilder natürliche Phänomene zeigen oder Effekte der fotografischen Aufnahme selbst. Entfernte Galaxien oder Staub auf der Linse? Ein Abbild Christi oder zufällige Erscheinungen im Entwicklerbad?
Schließlich beginnen Künstler wie Strindberg, Polke oder Araki die technischen Regeln mit Absicht zu missachten, um die ästhetische Dimension des Zufalls zum Vorschein zu bringen. Die Störung ist der Ort, von dem aus die Frage nach der Wahrheit der Fotografie noch einmal ganz neu gestellt werden kann.
Bilder aus Versehen steht auf Platz vier der besten Sachbücher des Monats (April 2011)
Peter Geimer ist Professor am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin und freier Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt Theorien der Fotografie (2009) sowie bei Philo Fine Arts Derrida ist nicht zu Hause. Begegnungen mit Abwesenden.
INHALT
1. Geschichte und »Vorgeschichte« der Fotografie
Was ist (noch) kein Bild?
Ausschluss der absichtslosen Bilder
›Erfindung‹ oder ›Entdeckung‹ der Fotografie?
2. Sichtbarkeit durch Zer/Störung – Vorfälle der Fotografie
Bildverlust I – Auslöschung (Verblassen, Vergilben, Zersetzung)
Bildverlust II – Der Unfall ist ursprünglich »Feinde des Fotografen« – das Material drängt sich auf
Blow up – vom Bild zum Stoff des Bildes
Parasiten der Repräsentation. Bild und »Zusatzbild«
Mischungen von Fakt und Artefakt
Die Kunst der Störung I: August Strindberg
Die Kunst der Störung II: Araki, Polke
3.
Fallstudie I – Lebenszeichen oder »falsche Flammen«? Jules Luys und der Streit um die »photographie des effluves«
»Aufzeichnungsmaschinen« – von der hypnotisierten Seherin zur sensiblen Fotoplatte
Lebensströme – eine »neue wissenschaftliche Realität«
Lebensströme – »altbekannte Zufälle«
Die Unhintergehbarkeit der Spur
Die Platte kann nicht nichts zeigen (I)
4.
Fallstudie II – Selbstbildnis Christi oder Rauschen der Fotografie? Paul Vignon und die erste Fotografie des Turiner Grabtuchs
»Man sieht nichts«. Das Grabtuch in der Kathedrale von Turin
Fotografische Offenbarung. Das Grabtuch im Entwicklerbad
Nicht von Menschenhand
Bilder aus Dämpfen. Das Grabtuch im Labor
Beobachtung und Experiment
»Falsche«, aber nicht gefälschte Bilder
Vergleich von Kamera und Auge
Die Platte kann nicht nichts zeigen (II)
5. Sichtbar/Unsichtbar – Kritik einer Zweiteilung
»Fotografie des Unsichtbaren«
Herstellung von Sichtbarkeit,
Unanschaulichkeit, »Abschattung«
Ein Paket verschwindet
»Das Rätselhafte des Alltäglichen«: Schad,
Man Ray, Moholy-Nagy
Eine »andere Natur«
6. Das »Optisch-Unbewußte« der Fotografie
Künstliche Augen?
Der blinde Fleck der Sichtbarmachung
Der Apparat ›sieht‹ nicht
Worthingtons Tropfenbilder I – Black Box
Worthingtons Tropfenbilder II – Die Notwendigkeit der Fiktion